Nacktschnecken im Paradies                                              Leseprobe

 

 

                                                                           

 

 

 

Oh Märchen so schön!

 

Es war einmal ein Stiefmütterchen. Und dieses Stiefmütterchen war ein ganz besonderes, denn es gehörte zu der seltenen Gruppe der  Zufriedenen. 

Obwohl es drei schöne Stieftöchter hatte, spielten Äpfel keine besondere Rolle in seinem Leben. Es sei denn in Form von üppigen Apfelblüten in Vasen, 

als Apfelmus mit einem Hauch Zimt oder als schlichter Streuselkuchen mit Apfelstückchen. Kurzum, es lebte glücklich mit den Stieftöchtern, den Schönen der Nacht, 

wie sie ihre Töchter zärtlich nannte.

Das Stiefmütterchen und ihre Töchter, das Fleißige Lieschen, das Flammende Käthchen und die Schwarzäugige Susanne wohnten am Rande einer kleinen Stadt 

und ihr Schlösschen war von einem riesigen Blumengarten umgeben, in dem natürlich auch Rosen an der Schlossmauer hinauf rankten und Düfte durch warme Sommerabende 

ziehen ließen, die gar nicht mehr von dieser Welt schienen.

Einmal im Monat gab es einen Tag der offenen Tür. Die Menschen kamen von weit her um den kunstvoll gestalteten Garten zu sehen. 

Auch Prinzen und andere Mannspersonen besuchten die Gartenführungen nicht nur um sich an edlen Blüten zu erfreuen. Sie suchten die Nähe zu den schönen 

Töchtern des Stiefmütterchens, die alle drei im heiratsfähigen Alter waren.

Das Fleißige Lieschen, die Älteste, war, wie der Name schon sagte, die emsigste der Schwestern. Vom frühen Morgen bis in die Nacht huschte 

sie fast lautlos durch Haus und Garten. Putzte hier und zupfte dort und immer war sie guter Laune. Doch keines der männlichen Wesen, 

die zahlreich durch den Garten zogen und eifrig zuhörten, wenn das Fleißige Lieschen bei den Führungen erzählte, wie man welche Pflanzen ins rechte Licht rückt, gefiel ihr.

Das Flammende Käthchen, eine leidenschaftliche Gärtnerin, stürmte fast täglich mit Gartenschere, Schäufelchen und Spaten durch den Garten. 

Sie kannte den Namen jeder Pflanze, sogar die, die man Unkraut nannte. Bei den Gartenführungen erzählte sie Geschichten von ihren Pflanzen und deren Gewohnheiten. 

Das machte sie so anschaulich, dass in den Monaten, wo sie durch den Garten führte, die meisten Menschen kamen. Aber auch ihr war der Mann ihres Lebens noch nicht begegnet, 

obwohl sie schon seit einiger Zeit danach Ausschau hielt

Die Schwarzäugige Susanne war das Nesthäkchen im Hause. Sie war die zarteste der drei Schwestern. Sie war fröhlich und lief singend durchs Schloss und 

den verzauberten Garten. Sie nannte ihn immer „unser Zaubergarten“, weil das Blühen darin nie ein Ende nahm. Dass ihre beiden Schwestern dafür ganz schön schuften mussten, 

um diesen Zauber auch zu erhalten, das übersah sie. Doch niemand nahm es ihr übel. Es muss überall auch die guten Geister geben, die nichts anderes tun, als im 

leuchtenden Frauenmantel und im extravaganten Frauenschuh, mit Nixenaugen und Sternenglimmer im Haar, durch den Garten zu wandeln. Die die Pracht bewundern, 

die andere geschaffen haben, um andere damit zu Künstlern zu machen. Und das konnte sie wie keine andere.

Und noch eine Fertigkeit zeichnete sie aus. Durch ihr Singen und durch ihren Frohsinn, vertrieb sie die Schnecken im Garten. Denn die können nichts weniger vertragen, 

als singende oder gar lachende Menschen, die sie gar nicht wahrnehmen, die sich nicht ärgern bei ihrem bloßen Anblick. Die Schnecken mit dem Häuschen auf dem Rücken

ließen sofort ab, von dem jeweiligen Blatt oder Stiel und manchmal ja auch Blüte und so schnell sie konnten, glitschten sie davon, sobald die Schwarzäugige Susanne 

auch nur den Garten betrat. Bei den braunen Nacktschnecken war es ähnlich. Sie, die mit ihrer schleimigen Spur, immer anzeigen, dass sie es waren, die die Blüten und Blätter 

von den Stielen schlingen, rollten sich bei ihrem bloßen Anblick zusammen und kugelten davon.

 

Die drei Schwestern waren, genau wie ihr Stiefmütterchen, zufriedene Geschöpfe. Der einzige Wermutstropfen in ihren Leben war, dass die Suche nach dem Märchenprinzen

schon seit mehreren Lenzen kein Erfolg beschieden war. Sie suchten den Einen, der sie mitnahm in seine Welt. Weg aus dem Schloss und weg aus der kleinen Stadt, wo es nie neue 

Dinge gab und alle Menschen alles voneinander wussten. Im Städtchen nannte man die drei Schwestern, ein wenig spöttisch, die Jungfern im Grünen.

 

Die Schwarzäugige Susanne war die erste, die ihren Traumprinzen fand.

Brennende Liebe traf sie an einem heißen Sommertag. Der Gute Heinrich ging zufällig am Schlossgarten vorbei, als sie singend in einer Hängematte lag. 

Er grüßte, zog seinen Sonnenhut vom Kopf, hielt ihn an die Brust und starrte die Schwarzäugige Susanne an. Es war genau die Liebe auf den ersten Blick, 

wie sie in vielen Büchern erzählt wird. Herzklopfen und Ungläubiges-Sich-Ansehen. Beiden war es auf der Stelle klar, das sie zusammenbleiben würden.

„Bleibtreu!“, sagte das Stiefmütterchen ein klein wenig mahnend zu ihrer Tochter, am Tage der Hochzeit. Sie flocht ihr den Brautkranz mit Septembermyrte und Schleierkraut. 

Dann kniff sie ihr ein Auge zu und drückte ihr einen Strauß mit violettem Storchschnabel in die Hand

„Vergißmeinnicht, mein Mädesüß!“, rief sie der scheidenden Tochter nach, die mit quietschenden Reifen, am Steuer eines Porsche davonfuhr. Ein Tränendes Herz klopfte beiden, 

dem Stiefmütterchen und auch der Schwarzäugigen Susanne, noch lange unruhig in der Brust.

Das Fleißige Lieschen war die nächste Braut. Freudiger Schreck erfasste sie beim Nähen und sie war froh einen Fingerhut zu tragen, sonst hätte sie sich vor Aufregung glatt gestochen, 

als der Mann plötzlich neben ihrer Gartenbank stand.

„Oh, Langer Heinrich“, rief das Fleißige Lieschen und senkte verschämt ihr Mädchenauge, als er sie, samt Rittersporn und Eisenhut, in die Arme schloss und in ein neues Leben mitnahm.

Das Stiefmütterchen seufzte und dachte: ein echtes Herzgespann!

Zum einen war sie erleichtert, dass das Leben seinen Gang ging, dass auch die zweite Tochter einen guten Mann gefunden hatte. Beide Männer sahen wirklich nach echtem Männertreu aus 

und solch eine Zier war selten, dass wusste das Stiefmütterchen. Zum anderen jedoch wusste sie auch, dass das Leben sehr einsam sein würde ohne ihre Töchter. 

Denn dass auch das Flammende Käthchen irgendwann gehen würde, war sicher. Das große Schloss und der traumhafte Garten würden veröden. Der Herzschlag würde langsamer

 werden und irgendwann - einfach so - aufhören. So jedenfalls wünschte sie es.

Das Flammende Käthchen wurde zunehmend stiller, was gar nicht zu ihr passte. Sie war zwar nach wie vor eifrig im Garten und hackte, sägte, grub und schnitt. 

Ihr Sonnenauge verdunkelte sich jedoch mit jedem neuen Sonnenaufgang und sie wurde täglich blasser, denn ein farbiges Leuchten passte nicht zu einem traurigen 

Flammenden Käthchen. Doch noch immer war kein Freier in Sicht, der sie zur Sonnenbraut machte. Das Stiefmütterchen umsorgte sie noch zärtlicher als sonst. 

Es bewunderte den Garten und das Blühen. Das Lächeln der Stieftochter wurde immer seltener. Und noch etwas hatte sich verändert. Die Schnecken, mit und ohne Häuschen, 

fühlten sich sichtbar wohler im Garten.

Doch dann, an einem Morgen, stand der Goldene Heinrich vor dem blühenden Schlossgarten. Er hob sein Husarenköpfchen und strahlte beim Anblick des Flammenden Käthchens, 

die inmitten des Muskatellersalbeis einen wunderschönen Anblick bot. Er bot ihr seine Hand, Königskerze und Kaiserkrone und sie sagte mit glühendem Gesicht: „Ja!“

Goldlack und Goldrute waren der passende Brautschmuck für solch eine königliche Verbindung. Mit einer Kleopatranadel am Kragen, dass das Siefmütterchen von ihrem 

Mütterchen geerbt hatte, zog das junge Paar davon.

 

Das Leben des Stiefmütterchens veränderte sich. Zwar kamen viele Briefe und bunte Karten von den Töchtern, doch es wurde täglich einsamer und auch müder. 

Ein Gärtner versorgte den Garten, der über Nacht seinen Zauber verloren hatte und nur noch ein ordentlicher Blumengarten war. Zur Schneckenbekämpfung gab es Töpfchen mit Bier. 

Aber nach einem regenreichen Sommer half das auch nichts mehr und das blaue Schneckenkorn lag, für alle sichtbar, zwischen den Blumenbeeten. 

Im Schloss gab es eine neue Kraft, eine freundliche Frau, die kochte und putzte. Kein unnützes Lachen schwirrte mehr durch die Räume.

An einem Morgen blieb das Stiefmütterchen einfach liegen. Es war schön warm im Bett und den schweren Augenlidern gefiel es, sich nicht mehr zu öffnen. 

Die Bewohner des Städtchen eilten ans Krankenbett. Wünschten Besserung und neuen Lebensmut und vielleicht Enkelkinder, die dann, zumindest in den Ferien, 

durch den Schlosspark toben könnten. Doch alle guten Wünsche halfen nicht. Das Stiefmütterchen wurde mit jedem Tag schwächer.

Die Briefe der Stieftöchter waren verhalten. Sie ähnelten sich vom Inhalt her, wenngleich die Schwestern hunderte von Kilometern getrennt voneinander wohnten. 

Sie hatten Heimweh, denn in den fremden Ländern schien eine andere Sonne, die kein Licht in ihr Leben brachte. Keine der Schwestern war inzwischen guter Hoffnung, 

sie verloren sogar die Farbe in der Fremde, ihre üppige Lebensfreude. Die Ehemänner versuchten alles, um ihren Frauen das Leben schön zu machen. 

Sie verreisten in alle Länder der Erde. Fuhren über die Meere mit ihren schönen Frauen. Zeigten ihnen neue Farben, neue Blumen, neue Wunder. 

Doch niemals wieder konnten die Männer dieses Licht in den Augen ihrer Frauen sehen, dass sie damals, als sie sich kennen lernten, fast um den Verstand gebracht hatte.

 

Der Bürgermeister des Städtchen, in dem das kranke Stiefmütterchen lebte, schrieb an die drei Stieftöchter. Schrieb, dass nur noch ein Wunder das einsame, 

dahinwelkende Stiefmütterchen retten könnte.

Als die Nachricht von der schweren Erkrankung ihres Stiefmütterchens kam, war die Schwarzäugige Susanne die erste, die heimlich das Nötigste packte und in einer 

trüben Novembernacht ihren Mann verließ um zu ihrem Stiefmütterchen zurückzukehren.

Es war Nacht, als sie endlich zu Hause an der Schlossmauer stand. Das Herz klopfte ihr laut und sie schlotterte vor Kälte. Sie überlegte, wie sie ins Schloss gelangen 

konnte ohne das Stiefmütterchen zu wecken. Die weißen Jakobsleitern blühten auch noch in diesen Novembertagen und zeigten ihr den Weg. 

Anscheinend hatte sich doch jemand die Mühe gemacht das Verblühte immer wieder herunter zu schneiden, so konnten sie auch noch in diesen Novembertagen blühen. 

Sie lächelte und erinnerte sich, wie ihre Schwestern die ersten blauen und später weißen Jakobsleitern pflanzten und zwar genau an diese Stelle der Schlossmauer, 

wo der Putz aus den Ziegeln gebröckelt war und nach und nach auch Steine. Kein Mensch vermutete hinter der Blütenpracht einen Durchgang.

Die Schwarzäugige Susanne schlich durch den Garten. Sah Rosen, die plötzlich ihre Knospen öffneten. Roch Jasmin und Muskatellersalbei. Sogar die Schmuckkörbchen, 

die schief über den Beeten hingen, richteten sich auf und zeigten die pinkfarbenen Köpfe. Ein Rascheln durchdrang den Garten. Schnecken hasteten und kugelten bis zur 

Mauer und dann nichts wie weg aus diesem Garten.

Die Schwarzäugige Susanne atmete tief aus. Alle Anspannung ließ nach und der Garten wurde mit einem Male wieder ein Zaubergarten.

 

Das Stiefmütterchen bekam vor Aufregung rote Bäckchen, als ihr nicht wie gewohnt die Haushälterin das Frühstück ans Bett brachte, sondern ihre Schwarzäugige Susanne. 

Die stellte einen Strauß aus Lungenkraut und Leberbalsam neben das Bett  und wich ihr nicht mehr von der Seite. Sie erzählte von dem fremden Schloss, 

den fremden Blumen und seltsamen Menschen und natürlich von ihrem Mann, dem Guten Heinrich, der ihr nun doch ein wenig fehlte und an den sie mit großer Liebe dachte.

Das Fleißige Lieschen und das Flammende Käthchen trafen sich etwa eine Woche später auf dem Bahnhof der kleinen Stadt. Ihre Taschen waren voller 

Zauber-Heil-Pflanzen: Hundszahn, Katzenpfötchen, Trollblumen, Elfenspiegel, Gauklerblumen, Heiligenkraut, Lungenkraut und Leberbalsam von der blauen Donau und dem Rest der Welt.

 

Natürlich ist es müßig zu sagen, dass das Stiefmütterchen binnen eines Monates wieder kerngesund war. Das Lachen hatte sich wieder breit gemacht im Schloss 

und im Schlossgarten war nicht mehr eine Schnecke zu sehen. Der einzige Wermutstropfen im Leben der vier glücklichen Frauen war das Fehlen der drei Heinriche, 

die ihrerseits große Sehnsucht nach ihren Frauen hatten. Doch wozu lebten sie alle in einem Märchen?

In den Städten der Umgebung waren schon seit längerer Zeit einige Schlösser zu verkaufen.

Mehr gibt es im Moment wirklich nicht zu berichten.

 

Und wenn sie nicht vertrocknet sind und sie vor Kälte geschützt werden, dann blühen sie weiter bis ans Ende aller Zeit.

 

 

 

 

 

Adamo und Evelyn

Kennen sie eigentlich Schrebergärten, meine Damen, meine Herren? Oder korrekter gesagt; Kleingärten? Vielleicht gehören sie zu den Privilegierten, besitzen das Schloss, 

die Villa oder zumindest das Reihenhaus. Lassen Ihren Park vom Gärtner auf Vordermann bringen oder rupfen das Unkraut aus dem Vorgarten selber raus. 

Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen sie nicht mit dem Auto oder dem Fahrrad die jungen Pflänzchen vom Gartencenter in die Gartenanlage fahren. Kisten mit Bier und 

Kästen mit Sprudel, Cola und Limonade vom Parkplatz bis zum Garten schleppen, weil es an Wochenenden nicht erlaubt ist mit dem Auto bis zur Gartentür zu fahren. 

Ihre Lust am Park oder Garten trübt vermutlich nicht der geringste Hauch von Unbequemlichkeit. Für den Rest der Menschheit jedoch sind Schrebergärten die Oase ihrer Sommer, 

die Freizeiterfüllung schlechthin. Phantasien, die in Erfüllung gehen: Blütenträume, die in buntester Vielfalt Gestalt annehmen, Gemüse, feiner als in jedem Delikatessgeschäft, 

Obst in Hülle und Fülle und alles genau so, wie die Natur es möchte. Im Schrebergarten ist die Laube die Villa, mit dem Komfort, den ein Mensch braucht. 

Ja, und genau hier wäre es eine Überlegung wert nachzudenken, was ein Mensch wirklich braucht. Ein Gaskocher mit zwei Flammen genügt selbst dem kreativsten Koch 

und das nicht nur unter den Gartenfreunden. Ein tiefes Loch in den schattigen Boden gegraben, hält Getränke, Grillfleisch und selbst die sonntägliche Buttercremetorte frisch. 

Für die menschlichen Bedürfnisse, sie wissen schon was ich meine, gibt es die Holzhütte mit dem ausgeschnittenen Herzen in der Tür und dahinter; das Plumpsklo, 

in dem sich zwar an heißen Tagen die weißen Maden schneller vermehren, als die Mäuse auf dem Feld, doch wenn man nicht ins Loch hinein sieht, ist alles so hygienisch wie zu Hause auch. 

Für die lauschigen Abende brennen Kerzen, Fackeln und in manchen Gärten erhellen Solarlampen die Sommernächte. Sicher könnte die Liste der wirklich zum Leben benötigten Dinge 

beliebig fortgesetzt werden. Aber... heute sind die meisten Schrebergärten mit Elektrizität ausgestattet und das Plumpsklo ist einer ordentlichen Toilette gewichen. Doch davon jetzt genug.

Hier, in unserer Gartenanlage, ist es wie es ist. Ganz so, wie Herr Dr. Schreber es gewollt hätte. Der war für Zucht und Ordnung. Aus Zucht wird züchten und schon sind wir wieder 

direkt in unserem Schrebergarten. Hier stehen Zwiebeln und Kartoffeln in Reih und Glied. Kein Unkrautpflänzchen hat die Chance sein hübsches Blütenköpfchen aus dem gepflegten 

und gedüngten Boden zu heben. Und wie im richtigen Leben: Nicht immer kommt zusammen was auch zusammen gehört. Zwiebeln und Kartoffeln neigen ihre grünen Köpfe zueinander, 

sehen sich in inniger Verbundenheit an. Doch die Furchen sind viel zu tief. Ein Treffen findet höchstens in der Bratpfanne statt, in Form von Bratkartoffeln!

 

Und in diesem Ambiente, verehrte Damen, geschätzte Herren, treffen sich Adamo und Evelyn.

Eva, wie sie von den Gartenfreunden genannt wird, ist die Tochter von Herrn Fischer, dem Vorsitzenden des Kleingartenvereins „Frohes Schaffen“. 

Herr Fischer und seine Frau Lorchen herrschen wie echte Regenten über die 106 Gärten und die Menschen, die hier eine Parzelle gepachtet haben. 

Aber, um bei der Wahrheit zu bleiben, Herr Fischer herrscht weniger, dafür um so mehr seine Frau Hannelore, genannt Lorchen, zu der diese Zärtlichkeitsform eigentlich 

gar nicht passt. Kein Mensch im „Frohes Schaffen“ weiß, wer Hannelore zuerst Lorchen genannt hat. Denn, wie die Ältesten der Gartenfreunde zu erzählen wissen, 

die Lorchen schon als Baby gekannt haben, hat selbst in diesem zarten Alter weder Mutter noch Vater, das rund um die Uhr schreiende Kind, je Lorchen genannt.

Lorchen ist also der Chef im Hause und auch hier in der Gartenanlage. Noch dazu hat sie die lauteste Stimme im gesamten „Frohes Schaffen“ und das will so einiges heißen. 

Sie schimpft, keift und zetert mit ihrem Mann und manchmal auch mit Evelyn. Spaziergänger die einen Streifzug durch die Gartenanlage machen bleiben häufig erschrocken stehen. 

Doch wenn sie das bemerkt, strahlt sie die Leute an. Ihr hübsches Gesicht wird wie auf ein geheimes Zeichen hin weich und freundlich und ihre dunklen Augen glänzen.

„Schöner Tag heute, nicht wahr?“ oder „Bei uns blüht´s schön, woll?“, beginnt sie ein Gespräch. Sind die Spaziergänger vorübergegangen, dreht sie sich wieder um und hadert weiter. 

Mit Lorchen ist wahrlich nicht gut Kirschen essen. Herr Fischer kennt seine Frau genau und weiß, schweigen ist dass beste für ihn. Er senkt meist demütig sein Haupt, 

bis die Strafpredigt vorüber ist. Evelyn hat beim letzten Streit vor einigen Wochen Mutter bei den Schultern gepackt und sie gerüttelt und geschüttelt. 

Sprachlos hatte die ihre Tochter angesehen und den Mund auf und wieder zugemacht. Kein Ton ist ihr von den Lippen gekommen.

„Schrei mich nie mehr an, Mami!“, hatte Evelyn so laut geschrien, dass selbst in Garten 104, der am weitesten entfernt vom Garten der Fischers ist, 

jedes Wort genau zu hören war. Seitdem wissen es alle Gartenfreunde definitiv, Evelyn ist die leibhaftige Tochter ihrer Mutter. Doch seit jenem Samstag geht 

Lorchen mit glanzlosen Augen durch die Anlage. Hackt hier und zupft dort und spricht mit keinem mehr. Die umliegenden Gartenfreunde können die Ruhe kaum fassen. 

Der nette Herr Pfeifer kann sein Radio mit normaler Lautstärke hören, singt und pfeift die Melodien mit, dass alle Nachbarn ihre Freude daran haben. 

Frau Korn nimmt ihrem Baby beim Mittagsschlaf das Ohropax aus den Ohren. Kläuschen und Jan können mit ihren Inlinern an Fischers Garten vorbeifahren, 

ohne von Lorchen ermahnt zu werden nicht so einen Krach zu machen. Wahrlich, es ist eine paradiesische Ruhe. Ja, bis im Garten 45 die Neuen ihre Zelte aufschlagen. 

Die Brieters sind weggezogen und der Garten steht schon seit einigen Monaten ungenutzt. Die Neuen, das sind die Minellis. Italiener! Sie verstehen, meine Damen und Herren?

Signore Alberto, Signora Rosa und ihr Sohn Adamo. Und noch einige Freunde der Familie, die ständig im Garten der Minellis sind und mitwerkeln.

Am ersten Gartentag nimmt Signore Alberto seine Frau, Signora Rosa und Adamo und ein Tablett mit Gläsern, dazu einige Flaschen Grappa und zieht von Garten 

zu Garten und stellt sich und seine Familie vor. Das ist der Tag an dem Lorchen ihre Stimmgewalt wieder gefunden hat. Nach dem vierten Grappa klopft sie 

Signore Alberto so kräftig auf die Schulter, dass ihm das Glas aus der Hand fällt und auf dem Steinboden vor der Laube zerschellt:

„Also, damit wir uns gleich zu Anfang recht verstehen: Hier wird nicht mit Gift gespritzt. Haben sie mich verstanden? Hier bei uns gibt´s nur Natur pur, capito?“

Signor Alberto nickt verschüchtert. Signora Rosa und auch Adamo versichern eifrig, niemals Gift in den Garten zu bringen. So was wäre bei ihnen in Italien ohnehin nicht üblich.

Ja, meine Damen und Herren, nun ist Lorchen wieder bei gewohnter Stimmgewalt und alle Gartenfreunde ziehen wie gewohnt die Schultern ein und senken die Köpfe, 

sobald ihre Stimme durch die Anlage tönt.

 

Wochen später findet das Sommerfest, wie in jedem Jahr, an einem Samstag statt.

Das Vereinsheim ist mit Lichterketten, Girlanden und Lampions geschmückt und wie sonst in jedem Jahr, spielt auch in diesem Jahr Herr Pastien, der griesgrämigste 

Gartenobmann den man sich vorstellen kann, auf seiner Orgel zum Tanz auf. Adamo verbeugt sich galant vor Evelyn und beim Schneewalzer, den Lorchen mit lautester Stimme 

und verzücktestem Lächeln mitsingt, sehen die beiden sich tief in die Augen. Funken sprühen und alle können es sehen. Lorchen ist schon beim Herzileinlied, 

als sie bemerkt, dass Evelyn mit geschlossenen Augen in den Armen von Adamo liegt. Sie nimmt zwei Finger in den Mund und pfeift durchdringend. 

Das ist wie in jedem Jahr das Zeichen für Herrn Pastien eine Polonaise anzustimmen. Lorchen schnappt sich Adamo, legt ihm ihre Hände auf die Schulter und schiebt ihn, 

gefolgt von anderen Gartenfreunden, die Wege hinunter.

Ja, meine Herrschaften, das ist vorerst die letzte Begegnung von Evelyn und Adamo. Ihr Eden wird nun von Lorchen und Herrn Fischer so streng bewacht, 

dass selbst eine Schlange das kleinere Übel wäre. Die beiden kontrollieren selbst die Blicke ihrer Tochter. Sobald die Minellis den Weg zu ihrem Garten entlang 

kommen, muss Evelyn Kaffee kochen, Harke holen, Laube putzen oder Schuppen aufräumen. Und Lorchen wird jeden Tag auf´s Neue in ihrer Feindseligkeit gegen 

die Familie Minelli bestärkt. Vater Alberto pflanzt merkwürdige Sachen in seinem Garten, keine Kartoffeln wie die anderen oder Zuchinis, die bei einigen Mutigen 

schon kräftig geerntet worden sind, sondern Pastinaken. Keiner der Gartenfreunde weiß was das überhaupt ist. Oder auch Fenchel mit filigranem Blattwerk, 

Melonen und Artischocken unterstreichen die Andersartigkeit. Und, meine Damen und Herren, an jedem Sommerabend feiern die Minellis. Ständig sind Gäste da. 

Es wird getrunken und Lorchen meint sogar es würde gesoffen, wie bei den alten Germanen. Täglich zieht der Geruch von Gegrilltem und von Knoblauch durch die Gartenanlage

 „Frohes Schaffen. Und das, was Lorchen am Allermeisten hasst, ist: Es wird gelacht und dies so laut, dass es bis in den hintersten Garten zu hören ist. 

Dazu wird auch noch gesungen und zwar auf Italienisch. Lorchen versteht kein Wort und ihr Mann, Herr Fischer, hat in dieser Zeit seine liebe Not mit ihr.

 Er kann ihr noch weniger recht machen als sonst.

 

Der Abend ist warm aber es regnet. Sie kennen so einen Nieselregen, der abscheulich in seiner steten Langsamkeit durch die Kleidung dringt? 

So ein Nieselregen, der jedoch, wenn er lange genug dauert, der Traum aller Gartenfreunde ist. Weil die heiße Erde begierig die warme Nässe aufnimmt. 

Weil Blumen, Obstbäume und auch Gemüse weder mit Gießkannen voller Regenwasser, noch mit dem Gartenschlauch zu befriedigen sind.

Im „Frohes Schaffen“ herrscht Stille, wie nur selten an Sommerabenden. Vögel tirilieren, Häschen hüpfen die Wege entlang und bleiben erstaunt stehen.

„Madonna!“, eine Männerstimme krächzt heiser, ja, fast atemlos immer wieder „Madonna!“ Dazwischen eine helle, kräftige Frauenstimme: 

„Ja! Nein! Oh, ja! Hör sofort auf! Nein. Hör nicht auf!“

Die Häschen verstehen nichts und rennen plötzlich hakenschlagend in die Büsche, als sich auch noch Schritte im Marschschritt nähern. Nur Lorchen hat diesen schnellen 

Gang im Stechschritt. Sie hält einen Schirm über sich und schimpft halblaut vor sich hin: „So ein Idiot! Immer vergisst er die Hälfte. Soll er doch auf dem 

Treppenabsatz sitzen bleiben bis er Moos ansetzt. Seniler alter Knacker!“

Lorchen spuckt dabei über den Zaun von Krämers Garten und trifft den rosa Sonnenhut genau in der dunklen Mitte. Doch dann, meine Herrschaften, 

bleibt sie so plötzlich stehen, als hätte sie ein Zauber in den Bann geschlagen oder der berühmte Blitzschlag sie getroffen oder als wäre sie zur biblischen Salzsäule erstarrt, 

das wären wahrscheinlich die treffendsten Vergleiche.

„Nein! Ja!“ und dann wieder das heisere „Madonna!“

Lorchen legt die Hand auf das immer lauter klopfende Herz. Vor der Laube der Minellis bleibt sie stehen.

„Madonna! Madonna!“

Lorchen zerrt an der Gartentür, rennt so schnell sie nur kann zur Laube und reißt genau in dem Moment die Tür auf, als die Stimme ihrer Tochter zu einem 

Flüstern wird. “Ja, oh ja, lieber Gott!“

Sie presst die Hand auf ihren Mund. Die Tränen quellen ihr aus den Augen. Alle Träume, die sie hatte für ihre Tochter - ein Prinz, ein König oder zumindest 

der Sohn des Oberbürgermeisters - fließen mit den Tränen davon. So eine Schande, wenn die anderen Gartenfreunde so zufällig wie sie, an diesem Regentag 

hier vorbeigekommen wären. Nicht auszudenken wäre das. Dieses Gerede. Ein Skandal! Sie sieht nicht was sie sieht. Nicht die nackte Evelyn, die hastig 

von der Klappcouch springt und ihre Kleidung schützend vor sich hält, nicht Adamo der in die letze Ecke der Laubenecke flüchtet und beide Hände 

auf sein Geschlecht presst. Lorchen dreht sich um, geht wie in Trance den Weg zurück und setzt sich ins Auto. Genau in dem Moment fahren die Petermanns, 

die Huhns und die Gebauers mit ihren Autos auf den Parkplatz. Lorchen stiert nur geradeaus. Sie sieht weder die winkenden Leuten noch Evelyn, die von der anderen 

Seite auf den Parkplatz läuft, gefolgt vom heftig gestikulierenden Adamo. Heftig drückt sie den Fuß auf das Gaspedal und fährt vom Parkplatz die Straße hinunter. Nur weg.

 

„Ja, liebe Gartenfreundinnen“. Lorchen lächelt die anwesenden Frauen der Gartenfreunde an, die alle zu der außerordentlich einberufenen Sitzung gekommen sind.

„Jetzt wisst ihr, wie man die Artischocken am besten zubereitet und vor allem auch wie man sie isst. Wir alle sind schließlich Weltbürgerinnen. 

Also bei mir gibt´s im nächsten Sommer, hoffentlich, die erste Artischockenernte. Den Fenchel habt ihr ja schon in meinem Garten sehen können.“

Die Frauen klatschen lauten Beifall. Lorchen sonnt sich im Applaus. Sie lächelt ihrer Tochter Evelyn zu, die aufsteht und an ein Glas klopft:

„Liebe Frauen, ich möchte mich auch auf diesem Wege für die vielen Geschenke zu meiner Hochzeit bedanken.“

Evelyn räuspert sich.

„Und im nächsten Jahr wird es ein neues Mitglied geben, hier bei uns im Verein.“

Sie streicht sich über den gewölbten Bauch. Die anwesenden Frauen klatschen heftig.

 

Ja, meine Damen und meine Herren, es hat sich so einiges verändert in der Kleingartenanlage „Frohes Schaffen“. Lorchen ist so leise wie nie zuvor in ihrem Leben. 

Sie lacht nur noch. Immer noch kann es niemand von den 106 Laubenbesitzern fassen. Ein lächelndes Lorchen ist ihnen unheimlich. Und bei der letzten Sitzung neulich, 

hat Herr Fischer die Rede sogar bis zum Ende alleine halten müssen. Lorchen saß nur lächelnd auf ihrem Stuhl und nickte oder klatschte, ganz wie es verlangt wurde.

In Minellis Garten ist die Runde der anwesenden Freunde noch größer geworden. Die Fischers feiern jeden Feierabend mit den Minellis gemeinsam. 

Für Signore Alberto und Signora Rosa ist sie nicht mehr Lorchen. Sie ist zur Loredana befördert worden.

Für Adamo ist Mama Loredana die perfekte Schwiegermutter. Sie kocht für ihn, ist bei Auseinandersetzungen immer auf seiner Seite, 

küsst ihn ständig rechts und dann wieder links auf die Wange und nervt alle Leute indem sie ständig:

„Also mein Schwiegersohn hat gesagt ...“, sagt.

Auch bei den Minellis hat sich viel verändert. Neben Adriano Celentanos „Una festa sui prati...“ und „Azurro“, hören die anderen Gartenfreunde 

jetzt immer häufiger Lieder vom Herzilein und den Schneewalzer. Und ganz Vertraute wissen zu berichten, Lorchen, Loredana besucht einen Italienischkurs Anfänger 1 bei der Volkshochschule.

           

 

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Letzte Änderung: 06.09.09 13:55 webmaster@iasevoli.de

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