Zartes, Zoff & Zipperlein                                                          Leseprobe

 

 

 

 

                                           

   

 

 

Geschichten vom Älterwerden

 

 

Die Schuldlosen

 

"Das wird Christa sein." Rosemarie öffnet die Tür.

"Na endlich! Unsere vierte Frau ist, wie immer, die letzte!"

Sie winkt den Frauen am runden Wohnzimmertisch zu.

"Karten auf den Tisch. Heute ist mein Glückstag! Heute gewinne ich!"

Ohne ihren Mantel abzulegen, ohne einen Gruß, hastet und stolpert Christa schwer atmend ins Wohnzimmer.

"Seht euch die Christa an! Völlig fertig, ist die! Wieder mal! Was ist dir denn heute Schreckliches passiert, Liebchen?"

Lilli kichert und wickelt eine pechschwarz gefärbte Haarsträhne um ihren Finger.

"Wen spielst du denn heute, Christa? Das Käthchen oder die Minna? Oder ist dir vielleicht endlich dein Tellheim begegnet?"

Lilli grinst ironisch, sieht sich beifallheischend in der Runde um.

Christa presst die Lippen aufeinander, fuchtelt mit einer Tageszeitung hin und her. Sie bleibt vor dem Tisch stehen. Sieht jede einzelne Frau an. 

Erst Lilli, die ihr frech in die Augen lacht. Dann Renate, die Christas Blick ausweicht und ihre grellroten Fingernägel an dem ebenso roten Pullover poliert. 

Zuletzt Rosemarie, die sich die Erdnussschüssel auf die fülligen Oberschenkel stellt und eine Nuß nach der anderen zwischen ihren schmalen Lippen verschwinden läßt.

"Ich hab's!", ruft Lilli, "heute ist unsere Christa die Kassandra!"

Christa wirft ihren Schal über die Schultern, streicht das blonde Haar zurück, das ihr sofort wieder in die Stirn fällt. Dann schmeißt sie sich ächzend in einen Sessel. 

Öffnet den Mantel und streckt die Beine in den Raum. Legt eine Hand dorthin, wo das Herz sein soll. Die Frauen lachen, heben ihre Weingläser.

"Auf unsere Christa. Die größte Schauspielerin, die je gelebt hat!"

Christa winkt ab.

"Quatsch, ihr boshaften Weiber! Gar nichts spiele ich. Und heute noch nicht einmal Doppelkopf. Wartet ab! Furchtbares ist passiert.“

Christa legt die Stirn in Falten, kaut auf ihrer bemalten Unterlippe. Ihre Zähne färben sich rosa.

"Ha! Euch wird das Lachen gleich vergehen!"

Sie hält die Zeitung hoch. Zeigt auf einen Artikel.

"Steht mal wieder was drin, über dich, in dem Käseblatt?", frotzelt Lilli. Alle lachen. Rosemarie stellt die Schüssel zurück auf den Beistelltisch, 

greift nach der Zeitung.

"Na, gib schon her. Ich lese vor!"

Christa stemmt sich aus dem Sessel. Versteckt die Zeitung auf dem Rücken.

"Nichts da! Ich lese vor! Vielleicht könnt ihr mal einen Moment ruhig sein. Also hört zu! Die Überschrift:

„Ehefrauen geben Schwiegermüttern kontra!"

Christa sieht sich triumphierend um. Die Frauen sehen Christa an.

"Na und?“, meint Rosemarie, "was geht uns das an? Unsere Schwiegermütter sind ja nun leider nicht mehr unter uns!"

"Zum Glück! Die haben uns nicht geschafft!", stellt Lilli fest.

Renate stößt Lilli an.

"Du bist vielleicht ein Lästermaul. Unsere Schwiegermütter sind tot. Und über Tote..."

Alle gemeinsam beenden den angefangenen Satz:

"Und über Tote soll man nichts Schlechtes sagen!"

Renate putzt sich die Nase. Drückt zwei Tränen aus ihren Augen. "Ihr seid vielleicht blöd! Vor nichts habt ihr Ehrfurcht! 

Also meine Schwiegermutter, die war..."

"Die war ein echtes Rabenaas! Das hast du wohl vergessen, Renate?"

Lilli sieht Renate an und schüttelt den Kopf. "Nur weil jemand nicht mehr lebt, wird er doch nicht, ruckizucki, ein liebenswerter Mensch! 

Also, dich verstehe ich wirklich nicht! Ich weiß noch genau, wie sie dir hinter dir herspioniert hat. Hinter jeder Ecke hat die einen Nebenbuhler 

ihres Sohnes lauern sehen. Ein echter Spitzel war die! Sogar hier unten vor der Haustür ist sie gestanden, hat gewartet, bis du das Haus verläßt 

und ist dann hinter die hergeschlichen. Und dass weißt du nicht mehr?"

Lilli schüttelt ihre schwarzen Haare. Wie immer, wenn sie sich aufregt, färben rote Flecken ihren Hals und das Gesicht.

"Ruhe!", schreit Christa mit ihrer lautesten Stimme. "Müßt ihr euch denn immer streiten?"

Renate hebt ihre Schultern.

"Was vorbei ist, das ist vorbei. Jetzt ist sie tot und wir ehren ihr An..."

"Amen!", spottet Lilli, kaut auf einer Haarsträhne und verdreht die Augen.

"Ruhe, sage ich! Hört mir doch zu. Also..., ich lese weiter:

„Dortmund:

Kampf der nörgelnden Schwiegermutter!

In Dortmund haben sich Betroffene zu einer "Schwiegertöchter-Selbsthilfegruppe" zusammengeschlossen.“

Christa sieht sich um. "Na, was sagt ihr dazu?"

"Daß wir damals nicht auch auf die Idee gekommen sind. Mensch, das ärgert mich wirklich!", sagt Rosemarie und haut mit der Hand 

auf den Tisch. Zwei Gläser fallen gegeneinander, kippen um und färben die weiße Tischdecke rot.

"Glück gehabt, Rosemarie!" Lilli strahlt in die Runde. "Überlegt doch mal, wenn unsere Schwiegermütter jetzt hier am Tisch sitzen würden. 

Rotwein auf dem guten Damast. Da kann ich nur sagen: ein Glück, das die alten Drachen das Zeitliche gesegnet haben."

Renate springt auf.

"Wenn du noch einmal solche..., solche Ausdrücke benutzt... dann gehe ich auf der Stelle!"

"Ist ja gut, Renate. Ich habe das nicht so gemeint."

Lilli zieht Renate zurück in den Sessel.

"Eigentlich hab ich es genau so gemeint. Ist doch gut! Setz dich hin. Ich sag nichts mehr." Lilli verdreht die Augen.

Rosemarie sieht sich jede Nuß genau an. Schiebt sie in den Mund, greift nach der nächsten.

"Wißt ihr noch, wie meine Schwiegermutter mich fertig gemacht hat? Sogar meine Wäsche hat sie inspiziert, dieses hinterhältige Biest! 

Ist ja schon gut Renate! Aber es stimmt doch, oder etwa nicht? Vom Höschen bis zur Bettwäsche hat sie kontrolliert und nie war die Wäsche sauber genug."

Rosemarie greift nach den Kartoffelchips. Schüttet sich eine Handvoll in den Mund. Spricht mit vollem Munde weiter.

"Und wißt ihr was sie dann immer gesagt hat? Kindchen, hat sie gesagt, ich will dir doch nur helfen! Ich darf gar nicht daran denken, sonst 

wird mir heute noch ganz elend. Ich kann nur sagen ein Giftzahn war das"!

Christa steht auf. Sie zieht ihren Mantel aus und lässt ihn fallen, hält die Zeitung hoch und murmelt vor sich hin.

"Rosemarie, hol den Cognac aus dem Schrank. Den besten, wenn ich bitten darf."

Sie sieht sich wieder um, geht auf und ab. Taucht in die Augen jeder einzelnen Frau. Nickt jeder drohend zu und bleibt vor Lilli stehen. 

Fuchtelt mit der Zeitung vor ihrem Gesicht hin und her.

"Ein Glück, daß die alten... Nein, Renate, ich sage das Wort nicht! ...das die das Zeitliche gesegnet haben, hast du gesagt? 

Da hast du auch recht aber rück mal ein Stück."

Christa setzt sich neben Lilli auf das Sofa. Rutscht eng an sie heran.

"Deine Schwiegermutter war ja auch nicht ganz ohne."

Christa schubst Lilli in die Seite. Lilli nickt. Die roten Flecken verstärken sich.

"Stimmt! Die war sogar beim Jugendamt, damals. Sie wollte mir Manuela und Mario wegnehmen lassen. Das war kurz nach Leos Tod. 

Nein, hört mir auf mit Schwiegermüttern!" Lilli schnieft. Renate reicht ihr ein Taschentuch.

"Ist doch vorbei, Lilli."

"Kann ich jetzt vielleicht weiterlesen? Hier steht noch mehr! Viel mehr sogar!" Christa hebt drohend die Zeitung.

„Mittlerweile haben sich mehr als 60 Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet gemeldet, berichtet die Initiatorin, 

die nicht genannt werden will.“

Rosemarie stellt die Cognacschwenker auf den Tisch.

"Sag mal, Christa, was willst du uns eigentlich sagen? Wenn du glaubst, daß das auch nur eine von uns interessiert, 

dann bist du schief gewickelt! Wir haben damit nichts, aber rein gar nichts mehr zu tun!"

"Genau!", stellt Renate fest. "Laßt uns endlich spielen. Schließlich ist heute nicht unser Kaffeekränzchen, sondern Doppelkopfabend!"

Alle klatschen Beifall, und sehen mißmutig auf Christa, die die Zeitung schwingt und: "Ruhe! Ruhe", schreit. "Es geht doch noch weiter."

Die Frauen lehnen sich schicksalsergeben in ihre Polster. Sie kennen Christa und ihre Auftritte. Christa, die jeden Pups zu einem Theaterstück 

macht und dann auch noch selbst die Hauptrolle spielt. Aber alle wissen; Christa ist durch absolut nichts aufzuhalten.

"Hört gut zu. Hier steht:

„Nach ihren Erfahrungen geht es vielen drangsalierten Schwiegertöchtern "dreckig". Sie leiden unter dem ständigen Dreinreden 

der Schwiegermütter, Überwachung oder sogar Verleumdung. Mit Kompromissen, wie Auszug aus dem gemeinsamen Haus oder Umzug 

in eine andere Stadt seien die Probleme mit Schwiegermüttern nicht zu lösen, so die Initiatorin. Folgen seien oft Flucht in Alkoholismus 

und Tablettensucht. Mit gemeinsamen Treffen und Gesprächen, will die Gruppe Frauen helfen, sich von ihren Schwiegermüttern 'freizustrampeln."

Christa läßt die Zeitung sinken. Sieht die Frauen lauernd an. Lilli gähnt, kuschelt sich tief in die Kissen. Rosemarie nippt an ihrem Weinglas 

kaut an einem Lachshäppchen. Renate mischt die Karten.

"Fertig? Können wir jetzt spielen?", fragt Renate. Lilli rappelt sich hoch.

"Na los. Auf geht's. Anscheinend versteht Christa nicht, daß die alten Geschichten lange vorbei sind. Gott sei Dank, aber auch!"

Christa steht wieder auf.

"Tatsächlich? Das geht euch nichts mehr an? Ahnungslose Gänse seit ihr. Habt das Denken wohl mit den Wechseljahren eingestellt? 

Denkt doch mal nach! Na?"

Christa sieht von einer Frau zur anderen. Sieht blankes Unverständnis.

"Tja, dann muß ich wohl noch deutlicher werden!"

"Hör doch endlich auf, mit den alten Geschichten, Christa!"

Renate hält die Karten hoch. "Wir wollen spielen. Alle wollen spielen."

"Genau!", ruft Lilli. "Jetzt ist dein Auftritt beendet. Du gehst uns ganz schön auf den Keks, heute Abend!"

"Kipp, den Cognac in die Gläser, Rosemarie!"

Unbeeindruckt hält Christa die Zeitung fest.

"Also, ich mache es kurz!" Sie legt ihren Zeigefinger auf einen Punkt auf der Zeitung. "Hier steht noch eine Telefonnummer, 

bei der sich interessierte Frauen melden können." Christa triumphiert.

"Au ja!", spottet Lilli. Das ist ungeheuer interessant!"

"Richtig!", sagt Christa. "Das war sogar äußerst interessant. Ich habe diese Nummer gewählt."

"Stimmt ja. Für Christa ist es immer noch wichtig.", stellt Rosemarie fest. "Unsere Christa hat ihre Schwiegermutter immer noch am Hals. 

Oh! Entschuldige bitte, Christa! Ich hab es nicht so gemeint."

Lilli lacht. Klopft sich auf die Schenkel.

"Richtig! Daß wir das vergessen konnten. Der alte Giftzahn platzt auch noch nach dreißig Ehejahren in das Schlafzimmer ihres Sohnes 

und seiner Frau. Und immer noch sagt die: Laßt euch nur nicht stören, ich geh gleich wieder!"

Die Frauen lachen.

"Willst du Mitglied werden, liebe Christa?"

Christa lächelt.

"Ich habe also diese Nummer gewählt, ihr Lieben." Sie sieht Lilli an. "Liebe Lilli! Ja und wißt ihr wer sich da gemeldet hat?"

"Ist das spannend. Ich halte es nicht mehr aus, liebe Christa!", spöttelt Lilli.

"Am Telefon meldete sich eine Frau..." Christa macht eine Pause. Sie drückt Lilli den Cognac in die Hand.

"Am Telefon meldete sich Iris Lorenz-Grubenkötter!"

Lilli führt das Glas zum Mund. Trinkt und schluckt den Cognac nicht hinunter.

"Nein!", sagt Renate mit schwacher Stimme. "Das glaub ich nicht! Das kann ich nicht glauben!"

Rosemarie stopft Chips und Nüsse und Lachshäppchen auf einmal in den Mund. Sie schüttelt unentwegt mit dem Kopf und starrt auf Lilli.

"Aber sag mal, hast du davon gewußt? Und wieso? Lilli ist doch die tollste Schwiegermutter, die eine Frau sich nur denken kann!"

Lilli schluckt den Cognac. Sie hält Rosemarie ihr Glas hin. Rosemarie gießt es voll. Lilli trinkt es leer, hält Rosemarie ihr Glas hin, Rosemarie gießt es voll.

"Ist es leichter für dich, Lilli, wenn du volltrunken bist?"

Christa legt ihren Arm um Lillis Schultern.

"Morgen mußt du trotzdem wieder aufstehen!"

"Jetzt spielen wir schon dreißig Jahre zusammen Doppelkopf", stellt Renate fest, "und noch nie, wirklich noch nie habe ich dich sprachlos gesehen!"

Mitleidig tätschelt sie Lillis Hand. Christa nagt an ihrer Unterlippe.

"Deine Schwiegertochter Iris kann ja diese Gruppe nicht alleine gegründet haben, Lilli. Die Frauen treffen sich einmal im Monat. 

Hier... bei uns in der Stadt! Immer am Montag. Das habe ich in Erfahrung gebracht. Denkt doch mal nach, Frauen!"

Rosemarie frißt die Schüsseln leer, Renate mischt die Karten, Lilli stiert in ihr leeres Glas. Christa nagt weiter an ihrer Lippe.

"Seit drei Monaten bringt mir Stefanie öfter mal die Kinder. Und wenn ich nachdenke; es ist stets ein Montag.", bemerkt Christa. 

Renate läßt die Karten sinken.

"Tatsächlich. Yvonne und Sabrina bringen mir die Kinder auch Montags. Das ist doch nicht möglich!"

Rosemarie nickt, murmelt verstört vor sich hin, wird lauter, immer lauter.

"Dieses Luder, die Susanne. Und du, Renate, bleibst sitzen. Das hier, ist mein Haus und Schimpfwörter benutze ich wie und wann ich will! 

Ist das klar? Aber das erzähle ich meinem Julian. So eine Kanaille. Und der habe ich immer die Wäsche gewaschen. 

Damit ist jetzt Schluß! Nie habe ich mich in ihr Leben eingemischt. Nie! Sogar abgeholt habe ich die Wäsche und gebügelt. 

Sogar in ihre Schränke habe ich sie geräumt und Ordnung geschaffen in diesem Durcheinander. Hat es einfach nicht gelernt, die Susanne, 

wie man Schränke systematisch einräumt. So ein undankbares Weib! Nicht zu fassen ist das. Jetzt werde ich meinem Julian endlich die Augen öffnen!"

Lilli stellt das leere Glas scheppernd auf den Tisch. Ihre Augen huschen von einer Frau zur anderen.

"Ihr habt recht! Unsere Schwiegertöchter haben diesen, diesen... Verein gegründet. 'Schwiegertöchter-Selbsthilfegruppe'! 

Das ich nicht lache! Meine Schwiegertochter Iris! Ja, als wenn ich ehrlich bin, der hab ich nie von hier, bis zur Tür getraut. 

Wer seinen Haushalt so schlampig führt, wie die. Ach, lassen wir das. Hab ja immer freiwillig geputzt, bis meine Finger blutig waren. Glaubt ihr, 

die hätte einmal danke gesagt? Und die Kinder hat sie mir auch nie gegeben, außer wenn es keinen anderen Ausweg gab. 

Was habe ich gebettelt sie mal übers Wochenende zu bekommen. Aber nein. Nie! Dieses Biest! Bei mir würden sie nicht frei erzogen, hat sie immer gesagt. 

Nur weil ich nicht wollte, daß die Kinder ihre Schuhe ins Aquarium werfen. Jetzt sagt doch mal selbst? Ein Miststück aller erster Güte ist das!"

Die Frauen nicken zustimmend. Reden durcheinander.

"Meinem Franki durfte ich noch nicht mal sein Lieblingsessen vorbeibringen. Der würde zu fett, hatte Yvonne gesagt! 

Dabei wollte ich ihn doch nur alle zwei Tage bekochen, damit er wenigsten hin und wieder was Ordentliches zu Essen bekommt. 

Und für Yvonne wäre das doch auch eine Erleichterung gewesen! Aber nein, dieses..., dieses... Und Gregors Schuppenflechte. 

Nur ich konnte die Vaseline so einmassieren, wie sonst kein Mensch auf der Welt. Ihr glaubt ja nicht wie oft mein Gregor das zu mir gesagt hat. 

Aber die... dieses Weibsstück, die wollte das selber machen."

Renate schluchzt. Christa sitzt nur da. Kaut an ihrer Unterlippe, die keinen Hauch rosa mehr hat.

"Das nützt jetzt nichts mehr. Das Kind ist leider schon in den Brunnen gefallen! Laßt uns überlegen, was wir tun können. 

Es steht ja wohl fest; wir, wir alle, lassen uns das nicht ungestraft gefallen!"

 

Christa trägt ihre Aktentasche unter den Arm geklemmt. Vor einem Schaufenster bleibt sie stehen. Mustert sich und ist zufrieden. 

Die frisch gewaschenen Locken flattern im Wind. Die Frühjahrssonne hat ihre Haut in zartes Braun gefärbt. Ein enger kurzer Rock, 

von dem ihre Schwiegertochter sagt, er wäre ein Skandal für eine Frau in ihren Jahren, zeigt kräftige, muskulöse Beine. Christa gefällt sich 

und lächelt sich in der Schaufensterscheibe zu. Sie läßt die Zungenspitze über die Lippen gleiten. Gut so. 

Vor der Redaktion der Lokalzeitung bleibt sie stehen, atmet einmal durch und setzt ihr schönstes Lächeln auf. 

Ist wieder einmal froh diesen Beruf der Schauspielerin von der Pike auf gelernt zu haben.

Herr Grützner steht auf, als Christa eintritt.

"Ich grüße Sie! Leider konnte ich Sie schon lange nicht mehr auf der Bühne bewundern. Bedauerlich! 

Äußerst bedauerlich, kann ich nur sagen." Er macht eine Verbeugung. "Was kann ich denn für Sie tun?"

Christa überreicht Herrn Grützner eine Mappe. Der Redakteur zieht die sorgfältig zusammengehefteten Din A4 Blätter heraus und liest:

 

Die Schuldlosen - Verein zur Ehrenrettung der Schwiegermütter e.V.

 

SATZUNG

§1 Namen, Sitz, Geschäftsjahr

1. Der Verein führt den Namen "DIE SCHULDLOSEN"

Verein zur Ehrenrettung der Schwiegermütter e.V.

Der Verein wurde in das Vereinsregister beim Amtsgericht eingetragen.

2. Der Verein hat seinen Sitz in Dortmund

3. Das Geschäftsjahr ist das Kalenderjahr.

§2 Zweck und Aufgaben

1. Aufgabe und Zweck des Vereins ist es, auf die in der Öffentlichkeit bislang tabuisierte Problematik der verleumdeten 

Schwiegermütter hinzuweisen. Ein Bewußtsein zu schaffen für das Ausmaß und die Folgen, die Frauen zu erleiden haben, 

deren Söhne, von heute auf morgen, eine fremde Frau in die Familie einführen, sowie die Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten.

2. Dieser Satzungszweck wird insbesondere verwirklicht durch die Betreibung einer Beratungsstelle mit folgenden Angeboten:

Therapie für die Opfer, zur Wiedererlangung ihrer Würde

Selbsthilfegruppen für Schwiegermütter jedweden Alters

Fallsupervisionen

Prozeßvorbereitung- und begleitung

Informations- und Öffentlichkeitsveranstaltungen

 Eccetera!

Eccetera!

Eccetera!

 

 

 

As time goes by

 

Ingrid Bergman... war's nicht. Die war zu freundlich, zu rein, zu brav. Kein Vorbild für einen Teenager. Ich war auf der Suche 

nach der Frau, die ich einmal werden wollte. Nur nicht wie Mama wollte ich werden, mit ihrer Sauerkrause. Um Himmels willen nicht wie Mama, 

die einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, für ein neues, langes Lockenjahr ihren Kopf in endlosen Qualen unter die heiße Dauerwellhaube stecken mußte. 

Mama, die ständig nach Kernseife roch, und deren abgearbeitete Fingernägel noch nie im Leben den Hauch eines schimmernden Nagellackes geziert hatte. 

Nein, niemals wollte ich wie Mama werden.

Es waren Rita Hayworth und Scarlet O' Hara, die mich prägten, alle Wünsche mobilisierten, eine schöne Frau zu werden. Diese leichte, rote Lockenpracht von Rita, 

ein Duft der sie umgab, den ich bis in meine dritte Kinoreihe riechen konnte. Ihr großer glänzender, blutroter Mund, den keine Frau in meiner kleinen Stadt 

vorzeigen konnte. Die schmale Taille und der Superbusen. Solche Brüste waren auch damals ein Traum. Doch die Schönheitschirurgen lebten in Hollywood, nur für wenige erreichbar.

An Scarlet gefielen mir andere Dinge. Sie war aufmüpfig, fiel aus allen Rahmen, schmachtete, kokettierte. Sie log sogar und war berechnend. Nie mangelte es ihr 

an der zündenden Idee, alles wieder zum Besten zu wenden. Und dieses grüne Samtkleid, das Scarlet trug - sie hatte es aus den alten Samtvorhängen genäht - 

war das Ziel meiner Wünsche, ist es vielleicht noch heute. Eine Mischung aus Rita und Scarlet wollte ich sein.

Ich übte Ritas Lächeln vor dem blinden Spiegel im Flur. Übte ihren Gang, warf die Hüften von einer Seite auf die andere. Stöckelte mit den spitzesten Schuhen, 

auf den höchsten Absätzen über das Kopfsteinpflaster am Marktplatz. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Männerblicke folgten mir. Und nicht nur Blicke. 

Schnell lernte ich, daß ein Stöckelschuh die unterschiedlichsten Zwecke erfüllen konnte. Hieb- und stichfest, das hatte ich mir von Scarlet abgeguckt. 

Wolfgang mußte sogar zum Arzt. Als er mir in den Ausschnitt grabschte, war der Schuh ganz plötzlich in meiner Hand und an seiner Stirn ein glatter blutender Strich. 

Wolfgang gefiel mir schon, aber... in meinem Ausschnitt waren so einige Dinge, die nur mich etwas angingen. Die Tempotaschentücher zum Beispiel. 

Sie formten meinen Busen so, wie ich ihn haben wollte. Ja, ich tat in meinem Leben so einiges, um eine schöne Frau zu werden. 

Ich zupfte alle Härchen aus den Brauen und malte schwarze Balken drauf. Den Eyeliner nutzte ich als Zauberstab: Kulleraugen rund und süß. 

Mandelaugen vom Südseeparadies. Penatencreme färbte meine Rosenlippen bleich. Das sah echt geil aus. Obwohl das niemand so nannte. Echt geil? 

Heute, viele Jahre später, ein müdes Lächeln meiner Tochter für das Herausputzen ihrer Mutter. Sie trägt ihr Haar mal rot, mal grün und manchmal auch kariert. 

Sie kokettiert mit einer Glatze. Sie lackt die Nägel schwarz und schneidet Löcher in Klamotten.

”Dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft...”, flüsterte er mir ins Ohr und streichelte meine Brüste. Ich lag in seinen Armen und träumte... 

war Rita, öffnete meine großen, feuerroten Lippen und sah im tief in die Augen. Ich war Scarlet, senkte meine langen, schwarzgeschwungenen Wimpern nicht ganz, 

als sein herrischer Mund mich küßte. Ach! Der Beginn dieser wunderbaren Freundschaft endete abrupt: Ich wurde Mutter, Ehefrau und Hausfrau. 

Jetzt gab ich mein Geld für Ata und Vim, für Alete und Schmelzflocken aus. Meine Wangen rundeten sich, wie der Busen. 

Der wuchs und wuchs, hörte einfach nicht mehr auf zu wachsen. Meine Hüften wurden voll und voller. Jedes meiner Kinder fand einen bequemen Platz darauf. 

Sah ich, was selten geschah, in den Spiegel, lächelte mich ein zufriedenes Mondgesicht an. Rita und Scarlet hatte ich aus den Augen verloren.

Irgendwann dann die Zeiten der Befreiung!

Meine Hüften gehörten wieder mir. Endlich! Mein Busen war nicht mehr wichtig. Wozu Dessous und Stöckel, Wimperntusche und Lippenstifte. 

Alice hatte nichts von diesen Dingen, sie hatte nur Recht. Recht mit jedem Wort, das sie sagte. Ich sagte es meinem Mann, der nichts verstand. 

Nein, nein, ich war keine unverstandene Frau. Ich doch nicht! Ich war eine Frau mitten im Leben und... Ich hatte eine neue Farbe entdeckt: Lila!

Lila Hosen, lila Blusen, lila Latschen.

Früher oder später, es mußte so sein, stellte ich fest: Lila steht mir nicht. Jeder neue Morgen zeigte mir neue lila Äderchen. 

Sie zierten erst Nase und Wangen, dehnten sich aus, erreichten schließlich die Beine. Nein, nie wieder lila, dachte ich. 

Erste Fältchen umzingelten meine Strahleaugen, wurden Falten. Furchen durchzogen mein Gesicht, die Brust, den Bauch.

Zum Glück kann frau so allerlei dagegen tun. An jeder Litfaßsäule, an jedem Kiosk, im Werbefernsehen bekam ich Nachhilfe:

Strahlesin für funkelnde Augen!

Imhandumdrehnglattin für jugendliches Aussehen!

Elastoprestolit mit idealem Ladyspachtel gegen die unschöne Orangenhaut!

Ich kaufte und schmierte, massierte, tröpfelte. Ich spachtelte die Dellen zu. Suchte jeden neuen Morgen den Erfolg, den mir auch meine neue Brille nicht zeigen konnte.

Aber an einem solchen Morgen sah ich Alice wieder. Ich traute meinen Augen kaum, war fassungslos: 

Alice lachte mit knallrot geschminktem Mund von einem Titelblatt. Auf den Augenlidern ein Schimmer Blau und ein Hauch Rouge auf den Wangen.

Jetzt konnte mich auch nichts mehr halten.

 

Endlich! Mit zittrigen Fingern öffnete ich den dezenten Briefumschlag.

”... Streifen Sie Ihre alte unschöne Haut einfach ab ...”

Schönheitschirurgie! Micro-Chirurgie, Laserpeeling, neue Nähmaterialien und innovative Instrumente!

Hängebäckchen, Tränensäcke - muß nicht sein!

Lippenrotverbreiterungen - daß es das gibt!

Brust größer oder kleiner, Bauch gestrafft, Fett am Körper abgesaugt. Probleme? - Kaum.

”... Bei der Stirnstraffung wird die Haut und auch die Knochenhaut bis zur Augenhöhle abgelöst. Nach 10 Tagen klingt die Schwellung und Hämatomverfärbung ab...”

Das waren die Nuancen, die mein Leben verändern sollten.

Mir wurde schwummerig. Ich würde eine völlig neue Frau werden! Schön! In meinem Kopf tuckerte die Rechenmaschine. 

Ich multiplizierte und addierte. Ja, das müßte zu finanzieren sein. Mir wurde schwarz vor Augen. Zittrig lehnte ich mich an die Wand, atmete schwer. Jetzt durfte ich mich entscheiden!

Wie Rita Hayworth oder besser wie Scarlet O' Hara?

 

 

 

 

 

 

 

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Letzte Änderung: 06.09.09 13:36 webmaster@iasevoli.de

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